Ein rein juristischer Blick auf UN-Kinderrechte nimmt erst einmal nicht in Betracht, wie Kinderrechte von Kindern (und Erwachsenen) verstanden, eingefordert, und in Anspruch genommen werden. Hierfür ist eine sozialwissenschaftliche Analyse vonnöten, wie sie beispielsweise von der neuen Kindheitssoziologie betrieben wird. Aber auch gemessen am juristischen Anspruch lohnt sich ein kritischer Blick, wie die Interessen der Kinder in der kinderrechtlichen Praxis tatsächlich zum Zuge kommen. Im Folgenden fasse ich elf Stolpersteine und Herausforderungen für die UN-Kinderrechte zusammen, die sowohl auf eigenen Erfahrungen beruhen als auch teilweise in der kinderrechtlichen Forschung ihre Bestätigung finden:

  1. Die wenigsten Kinder wissen, dass sie Rechte haben, geschweige denn welche. Umfragen für den Kinderreport des Deutschen Kinderhilfswerks 2018 ergaben dass nur 16% der Kinder und Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren und nur 12% der Erwachsenen sich mit UN-Kinderrechten auskennen – und das in einem „Bildungsland“ wie Deutschland. Daher ist es umso wichtiger, Artikel 42 UN-KRK ernst zu nehmen und Kinderrechte bekannt zu machen, sowohl unter Kindern wie auch unter Erwachsenen. Um wirklich zu verstehen was es mit den Kinderrechten auf sich hat, sind die Aufnahme von Kinderrechten in Schul- und Ausbildungscurricula sowie mehr klug-konzipierte innerschulische und außerschulische Bildungs- und Beratungsangebote nötig, die mit kreativen und altersgerechten Methoden arbeiten. Nur wenn sie bekannt sind, können Kinderrechte gesellschaftliche Anerkennung finden, mit Leben gefüllt werden und zu einer Kinderrechte-Kultur beitragen.
  2. Die Sprache in der die UN-Kinderrechte niedergeschrieben stehen, ist nicht inklusiv. Kein Wunder, denn Erwachsene haben sie entwickelt und formuliert, Politiker*innen und Jurist*innen mit wohlwollenden Absichten, aber in ihren Elfenbeintürmen gefangen. Kinder sind selten Teil des Prozesses der Rechteproduktion. Zur Entwicklung der UN-Kinderrechtskonvention haben sie nicht beitragen dürfen. Eine kindgerechte, alltagsnahe Übersetzung der Kinderrechte in Einfacher Sprache und Leichter Sprache ist daher unabdinglich. Zusammenfassungen, wie die „10 Kinderrechte“ von UNICEF oder die AWO-Broschüre in Leichter Sprache sind ein Anfang. Aber auch diese müssen auf die Lebenswelten, besonderen Bedürfnisse und Sprachen vor Ort angepasst beziehungsweise übersetzt werden. Dies wäre ein erster Schritt, um Kinderrechte inklusiv zu gestalten, sodass jedes Kind sie individuell in Anspruch nehmen kann.
  3. Das Rechtssystem mit seinen Gesetzen, Gerichten und Verfahren ist nicht kindgerecht. Vielfältige Barrieren hindern Kinder daran, ihre Rechte in Gerichtsverfahren selber in Anspruch zu nehmen. Kinder brauchen in der Regel den vollen Aufenthaltsstatus und eine gesetzliche Vertretung über 18 Jahre. Des Weiteren sorgen lange Verfahrensdauer, schwerverständliches Fachgesimpel, undurchsichtige Abläufe, ungenügende Ressourcen für Anwält*innen, mangelnde Glaubwürdigkeit, mühsame Beweislast, Exposition gegenüber (erwachsene) Straftäter*innen, Risiko der Stigmatisierung sowie geringe Erfolgsaussichten für Resignation. Zudem werden Forderungen von Kindern nach Gerechtigkeit häufig als trivial oder unrealistisch angesehen. Umso wichtiger erscheint in diesem Licht ein völliger Paradigmenwechsel hin zu einer kindgerechten Justiz.
  4. Die UN-Kinderrechte sind nicht direkt einklagbar. Die UN-Kinderrechte sind kein direkt anwendbares Recht, sondern eine völkerrechtliche Verpflichtung der unterzeichnenden Staaten. Wenn Kinderrechte vom Wohlwollen und von der Willkür von Erwachsenen, Institutionen oder Staaten abhängig sind, entfernen sie sich von Fairness- und Gerechtigkeitsprinzipien. Es bedarf daher Lobbyarbeit von Gruppen, Initiativen und sozialen Bewegungen (von Kindern und von Erwachsenen), Kontroll- und Monitoringinstanzen sowie Beschwerdeverfahren, um nationales Recht, Regulierungen und Gesetze im Sinne der Kinderrechte zu ändern und weiterzuentwickeln. Ziel sollte sein, in allen Bereichen Verantwortung für den Aufbau von nachhaltigen Strukturen zu übernehmen, die es Kinder wiederum ermöglichen, niedrigschwellig ihre Rechte selber in Anspruch zu nehmen.
  5. UN-Kinderrechte werden meist von Erwachsenen beansprucht, obwohl sie den Kindern „gehören“ sollten. Im sogenannten Vertretungsdilemma“ kommt das Problem zum Vorschein, dass Kinder in dieser Gesellschaft meist nicht über die notwendigen Befugnisse, Ressourcen und Freiheiten verfügen, um ihre Rechte selbst einzuklagen. Kinderinteressen sind aber nicht immer sichtbar, werden nicht immer verbalisiert. So kommen Erwachsene nicht drum herum, Kinderinteressen und Kindeswillen zu erörtern, zu interpretieren und zu beurteilen um daraufhin Kinder bei der Umsetzung ihrer Rechte zu unterstützen. Einerseits bedarf es partizipative Verfahren um Kinderinteressen mit den betroffenen Kindern aktiv zu erforschen. Andererseits zeigt ein Blick außerhalb der legalen Sphäre, dass Kinder sehr wohl proaktiv für ihre Interessen eintreten können wenn sie von Unterstützer*innen begleitet werden, die ein tieferes Verständnis von Kinderrechten haben, sich solidarisch zeigen und Kinder als (Rechts-)Subjekte und Protagonist*innen wahrnehmen.
  6. Das Verhältnis vom Kindeswillen zum Kindeswohl ist ungeklärt und spannungsreich. Beteiligungsrechte werden oft durch paternalistische Schutzrechte übertrumpft. In der Praxis dominieren die Urteile erwachsener Fachexpert*innen über die Sichtweisen der Kinder. Der Kindeswille kann vom Kindeswohl-Verständnis der (gesetzlichen) Vertretung abweichen, die es besser zu wissen meint. Dann stellt sich die Frage, wieviel Kindeswille im Kindeswohl zum Zuge kommt. Letztlich können auch andere Interessen gegenüber dem Kindeswohl überwiegen, denn dieses ist laut Artikel 3 UN-KRK nur ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Auch wenn es in manchen Situationen unvermeidlich ist, im Sinne des Kinderwohls zu handeln, sollten Kinder stets als Expert*innen in eigener Sache betrachtet werden und der Kinderschutz sollte sich die Stärkung der Kinder zur Aufgabe machen. Wichtig hierfür ist eine gelungene Beziehungsarbeit, die auf Gleichwürdigkeit und ethischen Prinzipien fußt. Kinder zu informieren, sie zu ermutigen, ihre Meinung zu sagen und diese ernstzunehmen würde einer Entmündigung entgegenwirken.
  7. Die UN-Kinderrechtskonvention ist im Vergleich zu anderen internationalen Verträgen und Marktinteressen ein zahnloser Tiger. Internationale Handelsabkommen, Deregulierungspolitiken und die Vorgehensweisen transnationaler Unternehmen zwingen die Vertragsstaaten zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Diese erschwert die Durchsetzung der UN-Kinderrechte. Ein Beispiel hierfür ist das internationale Patentrecht, das dem UN-Kinderrecht auf Gesundheitsfürsorge entgegenwirkt und bei Patentverletzungen umfassende Sanktionsmechanismen besitzt. Hinzu kommt, dass die Umsetzung von Kinderrechten nicht immer im monetären Interesse aller nichtstaatlichen Stakeholder*innen ist. Zum Beispiel hatte die Gastgebernation während der Fußball-Männer-Weltmeisterschaft in Südafrikada aus Imagegründen ein Verbot für junge Straßenverkäufer*innen erlassen. Ein indisches Bergwerk hat wiederum Interesse an günstigen, kleinen und jungen Arbeitskräften, um besser in enge Stollen vorzudringen. Und der deutsche Staat kümmert sich um das Bildungsniveau des Nachwuchses als soziales Kapital zur Sicherung des Standortes Deutschland. Umso wichtiger ist es, sich zu vernetzen und den Kinderrechten in vielfacher Hinsicht mehr Durchsetzungskraft zu verleihen.
  8. Häufig fehlen persönliche oder gesellschaftliche Ressourcen zur Umsetzung der UN-Kinderrechte. Juristische Rechte unterstellen, dass alle Personen von ihren Rechten in gleicher Weise Gebrauch machen können. Unter anderem wegen der völlig ungleichen Ressourcenverteilung im Kapitalismus entlarvt sich dies schnell als Fiktion. Besonders benachteiligte und wenig privilegierte Kinder sind Lichtjahre vom Rechtesystem entfernt und es gibt keine starke Sozialpolitik, die dies in naher Zukunft ändern könnte. Rechte ohne Ressourcen zu haben ist ein grausamer Scherz stellte einst Julian Rappaport, US-Psychologe und Ideengeber des Empowerments fest. Es macht kaum Sinn, Kinder über ihre Rechte aufzuklären, wenn sie diese nicht einlösen können. Es macht auch keinen Sinn, Kinder Rechte zu versprechen wenn diese nicht implementiert werden. Es müssen also Bedingungen geschaffen und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, die es zum Einen Kindern ermöglichen, ihre Rechte aktiv wahrzunehmen, zum Anderen um diese Rechte gesellschaftlich umzusetzen.
  9. Der universalistische Anspruch von UN-Menschen- und Kinderrechten kann nicht eingelöst werden. Auf der Welt existieren viele verschiedene Rechtssysteme, mannigfaltige Wahrnehmungen von Kindheit sowie unzählige Definitionen des Kindeswohls. Es ist unübersehbar, dass die UN-Kinderrechtskonvention auf einem staatenbasierten, individualistischen Rechtspositivismus aufbaut, vorwiegend von einem europäisch-bürgerlichen Kindheitsmuster aus gedacht wurde und entwicklungspsychologische und pädagogische Kindeswohl-Interpretationen bevorzugt. Die Geschichte der UN-Menschenrechtskonventionen macht ihre okzidentalische Herkunft deutlich. Aber es gibt einen Haken: Die UN-Kinderrechte können dazu eingesetzt werden, jene Gruppen, die sich nicht an diese radikal universalistische Interpretation der UN-Kinderrechte halten, zu unterdrücken, auszuschließen oder zu maßregeln. Aber auch eine radikale kulturrelativistische Argumentation gegen universelle Rechte, die Kulturen als homogen und statisch versteht, kann entsprechend angewendet werden. Daher sollten die universellen und kulturrelativistischen Ansprüche nicht als autoritäre Imperative verstanden werden. Stattdessen sollten wir in einen (selbst-)kritischen, konstruktiven Dialog zwischen dynamischen und transformierbaren Kulturen, Gesellschaften, Gruppen und Individuen treten.
  10. Die UN-Kinderrechte gehen nicht auf Ungerechtigkeiten ein, die der generationalen Ordnung und dem Adultismus entspringen. Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern fußen noch immer auf ein Machtungleichgewicht und enthalten hierarchische und paternalistische Elemente. Dies hat vielfältige Benachteiligungen oder Diskriminierungen von Kindern zufolge, die weder von nationalem Recht noch vom Völkerrecht berücksichtigt werden. Im Gegenteil: Traditionen, Gesetze und Institutionen untermauern diese Unterschiede sogar noch. Vielen Kinder kritisieren beispielsweise die Kinder- und Jugendschutzgesetze, die Schulpflicht oder ihr fehlendes Wahlrecht. Der Rechtsstaat unterscheidet ständig zwischen Kindern und Erwachsenen, was die Idee des universalgültigen Rechts widerspricht. Natürlich ist es wichtig, die Menschen in vielerlei Ansicht als unterschiedlich anzusehen, aber Alterskategorien sind keine geeignete Grundlage, um über Zugänge, Ein- und Ausschlüsse zu urteilen. Es müssen neue Kategorien her, die nach Fähigkeiten und Bedürfnissen aller Menschen fragen und unterscheiden.
  11. Die UN-Kinderrechte sind nicht das A und O der Kinderrechte. Häufig bleiben Debatten um UN-Kinderrechte in einer juristischen Sphäre stecken, die wenig mit der Lebensrealität von vielen Kindern zu tun hat. Die UN-Kinderrechte decken sich zum Beispiel nicht immer mit dem Gerechtigkeitssinn von Kindern oder wie Kinder Kinderrechte verstehen, einfordern und in Anspruch nehmen. Letztendlich ist es das individuelle Kind selber, das seine Rechte und deren Umsetzung für sein konkretes Leben beurteilen muss. Kinderrechte im erweiterten Sinne müssten offen, dynamisch und veränderbar sein, eine Erweiterung oder Weiterentwicklung der UN-Kinderrechtskonvention gemeinsam mit Kindern wäre auch denkbar.

Die meisten Herausforderungen, die ich hier aufzählte, führen zu der Aufforderung, die gesellschaftliche Stellung der Kinder zu stärken. Dies wird in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Debatten bereits thematisiert, unter anderen dort, wo es um „Partizipation, „Agency, „Resilienz, „Protagonismus „Autonomie oder „Empowerment der Kinder und Jugendlichen geht.

Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören, ob Sie ähnliche Erfahrungen mit UN-Kinderrechten gemacht haben, von Kinderrechte-Forschungsprojekten zu den oben erwähnten Themen gehört haben oder meine Erfahrungen ergänzen möchten. Nutzen Sie die Kommentarfuktion unten!

Philip Meade
aktualisiert am 18.07.2022