Welche Sichtweisen auf Kinderrechte gibt es?

Beginnen werde ich mit einem eher „erwachsenen“ Blick auf Kinderrechte, nämlich auf die Kinderrechte der Vereinten Nationen (UN), die als spezielle Rechte aus Menschenrechtsdebatten im Völkerrecht hervorgegangen sind. Ich nenne sie „Kinderrechte von oben“ weil sie auf dem System „Rechtsinhaber*in und Verantwortungsträger*in“ (z.B. Bürger*in und politischer Souverän) beruhen. Jene stehen per Definitionem in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Sie werden daher als Wohlfahrtsrechte verstanden, weil sie zum Einen von der machtüberlegenen Partei gewährt werden, zum Anderen häufig im Sinne des Kinderschutzes verstanden werden.

In einem gesonderten Text kritisiere ich diesen rein juristischen Blick auf Kinderrechte und weise auf Stolpersteine und Herausforderungen der UN-Kinderrechtskonvention hin. Von dort führe ich zu der Frage, wie Kinder selber ihre Rechte verstehen, einfordern, und in Anspruch nehmen und somit häufig über Verträge, Gesetze und Gerichte hinausweisen. In der Sozialwissenschaft werden diese Rechtsverständnisse mitunter als „subjektive Rechte“, „Handlungsrechte“ oder „ungeschriebene Rechte“ bezeichnet. Ich nenne sie „Kinderrechte von unten“ weil sie die Perspektive der machtunterlegenen Gruppe hervorheben und echte Kinderbeteiligung fördern.

Im besten Falle führen Kinderrechte zu einem strukturellen Empowerment (also zu einer „Ermächtigung“) von jungen Menschen auf einer gesellschaftspolitischen Ebene. Ähnlich wie in emanzipatorischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts (z.B. in der Frauenbewegung und im Feminismus, in der Schwarzen Bürger*innenrechtsbewegung, in der Queer-Bewegung oder in der Behindertenbewegung) geht es darum, gegen Diskriminierung vorzugehen. Empowerment ermöglicht eine aktive Beteiligungskultur und stärkt nachhaltig die Stellung der Kinder in gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Auch die UN-Kinderrechte können in Fällen, in denen sie sich quasi als Werkzeug eignen, hierzu beitragen.

Diese Perspektiven und Zugänge können sich ergänzen, doch teilweise stehen sie auch in einem Spannungsverhältnis zueinander. Schauen wir sie einmal näher an.

Was verstehen die Vereinten Nationen unter Menschenrechten?

Gewöhnlich stelle ich zu Beginn von Kinderrechte-Workshops (auch mit jungen Kindern) die Frage: „Was sind Rechte?“ Die Antworten der Schüler*innen sind oft erstaunlich einfach und verblüffend richtig:

„Rechte sind das, was ich darf und das, was ich bekomme!“

Schülerin einer 3. Klasse

Ein Recht ist ein Anspruch gegenüber einer Person oder Institution, etwas zu tun oder zu unterlassen. In der juristischen Fachsprache ausgedrückt: Es gibt Positivrechte, die eine Handlungspflicht begründen und Negativrechte, die eine Unterlassungspflicht begründen. Dieser Anspruch wird normalerweise von der rechtsinhabenden Person oder deren Vertretung eingefordert. Man könnte sie als eine Art Garantie der verpflichteten Person verstehen, bei dessen Nichteinhaltung Sanktionen eingeleitet werden können. Um Analogien aus dem Alltag zu bemühen: Rechte funktionieren ähnlich wie Versprechen. Wenn ein Onkel seiner achtjährigen Nichte verspricht, am nächsten Tag mit ihr ins Kino zu gehen, hat sie sozusagen dann ein Recht auf diesen Kinobesuch, sonst kann sie dieses lautstark einklagen. Oder auf anderer Ebene: Wenn eine Mutter einen Brief für ihren 14-jährigen Sohn im Briefkasten findet, darf sie diesen im Normalfall nicht ohne sein Einverständnis öffnen, denn das deutsche Grundgesetz verspricht allen Bürger*innen ein Postgeheimnis. Gesetze sind nichts anderes als kodifizierte (also juristisch festgeschriebene) Rechte und Pflichten, die für einen bestimmten Kontext konkretisiert wurden und in einer Gesellschaft (zumindest in der Theorie) verbindliche Anerkennung finden.

Die Idee der Menschenrechte beruht auf ethisch-moralischen Werten: Ihnen zugrunde liegt die Idee der Menschenwürde. Die UN-Menschenrechte haben den Anspruch, für alle Menschen weltweit gültig zu sein und brauchen keine Rechtfertigung (sie sind also universell gültig). Sie können zwar eingeschränkt werden, aber Menschen können sie nicht aberkannt bekommen, egal welche Verbrechen sie vorher selber verübt haben (sie sind also unveräußerlich). Und einzelne Menschenrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden indem sie zum Beispiel in wichtig und weniger wichtig aufgetrennt werden (sie sind also unteilbar).

UN-Menschenrechtsverträge sind Teil des internationalen Völkerrechts. UN-Menschenrechte bieten den Menschen zusätzliche Garantien zur nationalen Rechtsordnung: Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, die Menschenrechte

  • zu achten,
  • zu schützen und
  • zu gewährleisten.

Das Völkerrecht beinhaltet zwischenstaatliche Verträge und die Verpflichtung, diese innerhalb der Staaten bekannt zu machen. Aus den UN-Menschenrechten gehen keine direkten Verpflichtungen für die Bürger*innen eines unterzeichnenden Staates hervor. Die Bürger*innen eines Staates sind dennoch ethisch-moralisch dazu verpflichtet, die Menschenrechte der anderen zu respektieren, getreu dem Motto:

„Was du nicht willst was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“

Sprichwort

Kinderrechte sind Menschenrechte, die auf die spezifische Situation der Kinder eingehen. Dass es gesonderte Kinderrechte gibt liegt darin begründet, dass Kinder Interessen und Bedürfnisse haben, die sich teilweise von denen der (privilegierten) Erwachsenen unterscheiden.

Wie entstanden die UN-Kinderrechte und was enthalten sie? („Kinderrechte von oben“)

Ein zugrundeliegender Gedanke: Alle Kinder der Welt sollen die gleichen Rechte haben (hierfür gibt es ein Diskriminierungsverbot), laut Definition der Vereinten Nationen also alle Menschen vor ihrem 18. Geburtstag solange kein anderes Landesrecht zutrifft. Einem ersten Vorschlag aus Polen im Jahr 1978 folgten über zehn Jahre internationale Verhandlungen zwischen Politiker*innen und Jurist*innen (teilweise auch mit Nichtregierungsorganisationen). Die UN-Kinderrechtskonvention wurde nach dem Konsensprinzip schließlich am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Die lange Beratungsdauer lag unter anderem an den Kontroversen, ob das Leben eines Kindes bereits vor oder erst nach der Geburt beginnt, über die Religionsfreiheit, die Adoption und darüber, ab welchem Alter Kinder an bewaffneten Konflikten teilnehmen dürfen. Der Text besteht also aus vielen Kompromissen über das Verhältnis Kind – Familie, Sozialpolitik – staatliche Macht usw.

Die UN-Kinderrechtskonvention ist 1990 in Kraft getreten und wurde 1992 von Deutschland als völkerrechtlich bindender Vertrag ratifiziert. Sie stellt die bislang wichtigste internationale Vereinbarung zu den Kinderrechten dar. Sie beginnt mit einer Präambel, die beschreibt, warum es die Konvention gibt und für wen sie bestimmt ist. Danach teilt sie sich in drei Teilen auf:

  • Teil I: Artikel 1 bis 41 enthalten verschiedene bürgerliche, kulturelle und soziale Rechte.
  • Teil II: Artikel 42 bis 45 beziehen sich auf die Bekanntmachung und Anwendung der Konvention.
  • Teil III: Artikel 46 bis 54 beziehen sich auf die Ratifizierung und das Inkrafttreten der Konvention.

Die 41 Artikel aus Teil I lassen sich grob in Schutzrechte, Versorgungs- beziehungsweise Förderrechte und Beteiligungsrechte unterteilen. Auf Englisch lassen sich diese „3 Ps“ besser merken:

  • protection rights,
  • provision rights,
  • participation rights.

Wer es genau nachlesen will: Hier ist die volle UN-Kinderrechtskonvention in Wortlaut (in ihrer deutschen Übersetzung).

Die UN-Kinderrechte wurden unter anderem von UNICEF in einer für Kinder verständlicheren Sprache umformuliert und in zehn Rechte zusammengefasst. Jedes Kind hat demnach ein Recht auf:

  1. Gleichheit
  2. Gesundheit
  3. Bildung
  4. Spiel und Freizeit
  5. Freie Meinungsäußerung, Information und Gehör
  6. Gewaltfreie Erziehung
  7. Schutz im Krieg und auf der Flucht
  8. Schutz vor wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung
  9. Elterliche Fürsorge
  10. Betreuung bei Behinderung

Zwei Zusatzprotokolle zur Kinderrechtskonvention aus dem Jahr 2000 sollen den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten und in den Bereichen Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie verbessern. Ein drittes Zusatzprotokoll von 2014 enthält ein Individualbeschwerderecht für Kinder (siehe unten). Inzwischen hat auch Deutschland alle drei Zusatzprotokolle ratifiziert.

In öffentlichen und privaten Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, bei Gerichtsverfahren, in Verwaltungsbehörden oder bei der Gesetzgebung sollen laut Artikel 3 UN-KRK die „best interests of the child“ (auf Deutsch etwas problematisch mit dem „Wohl des Kindes“ übersetzt) bei Entscheidungen vorrangig berücksichtigt werden. Dabei bleibt das Kindeswohl, wie auch in der deutschen Rechtsprechung, ein unbestimmter Rechtsbegriff, der erst für den Einzelfall ausgelegt werden muss. Wie sehr der Kindeswille dabei konkret berücksichtigt wird, bleibt in vielen Fällen Interpretationssache der Gerichte.

Ähnliches gilt auch für die anderen Artikel der UN-Kinderrechtskonvention: Die darin enthaltenen Rechte sind eher allgemein gehalten und bedürfen einer juristischen Interpretation. Dies kann Fluch und Segen zugleich sein, denn so können die Kinderrechte zwar für alle Kinder weltweit Gültigkeit erlangen, ihre positive Bedeutung für das individuelle Kind hängt jedoch maßgeblich von der Konkretisierung und Übersetzung in den Alltag des Kindes ab.

Zur Erinnerung: Anfang des 20. Jahrhunderts hatten Kinder in Europa noch so wenig Rechte wie Haustiere – sie waren alleiniger Besitz des männlichen Familienoberhauptes (wie es im Übrigen auch die Ehefrau war!). Dies änderte sich zwar langsam nach den gesellschaftlichen Aufständen Ende der 1960er Jahre. Doch es ist durchaus der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 zuzuschreiben, dass Kinder als eigene, von ihren Eltern größtenteils unabhängige, Rechtssubjekte mit umfassenden Beteiligungsrechten juristisch anerkannt werden. Erwachsene müssen seitdem Kinder als Verhandlungspartner*innen ernst nehmen, sie nach ihrer Meinung fragen und diese auch in allen sie betreffenden Entscheidungen berücksichtigen – so steht es in Artikel 12 UN-KRK. Damit unterschied sich die UN-Kinderrechtskonvention von vorherrschenden Erziehungsvorstellungen bei denen Erwachsene klar das Sagen hatten. Dennoch stellt die UN-Kinderrechtskonvention die Kinder den Erwachsenen nicht gleich und wirft das elterliche Erziehungsrecht nicht gänzlich über Bord. Stattdessen haben die Erziehenden das Recht und die Pflicht, das Kind bei der Ausübung der UN-Kinderrechte „in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen“ (Artikel 5 UN-KRK).

Die UN-Kinderrechtskonvention wurde inzwischen von mehr Staaten ratifiziert als jeder andere Völkerrechtsvertrag. Das sind 195 Staaten an der Zahl, alle UN-Staaten der Welt außer den USA (wo die Ratifikation unter anderem von einer konservativ-christlichen Elternschaft boykottiert wird). Manche Staaten haben zwar bei der Ratifikation einen „Vorbehalt“ eingereicht (so ursprünglich auch Deutschland), deren Gültigkeit wird jedoch juristisch bestritten. Da über ein Drittel der Weltbevölkerung unter 18 Jahre alt ist, gilt die UN-Kinderrechtskonvention somit für rund 2,5 Milliarden Menschen – eine ganze Menge! Dies macht die UN-Kinderrechtskonvention zum „erfolgreichsten“ Vertrag der Welt!

Friede Freude Eierkuchen für alle Kinder weltweit also? Leider nicht, denn: Die UN-Kinderrechtskonvention als völkerrechtlicher Vertrag, stellt zwar geltendes Recht dar, beinhaltet aber keine direkt einklagbaren Rechte. Das Kind oder sein*e Vertreter*in kann sich zwar vor einem Gericht auf die UN-Kinderrechte berufen, in erste Linie stellt sie jedoch eine Staatenverpflichtung dar. Wir sind also gezwungen, uns die Frage zu stellen:

Wie sollen die UN-Kinderrechte umgesetzt werden?

Die unterzeichnenden und ratifizierenden Staaten sind die völkerrechtlichen Verpflichtungen eingegangen,

  • die Kinderrechte bei Erwachsenen und Kindern bekannt zu machen (Artikel 42 UN-KRK),
  • geeignete Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte zu ergreifen (Artikel 4 UN-KRK) und
  • alle fünf Jahre einen Bericht an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes zu schreiben (Artikel 44 UN-KRK),

Unter „geeignete Maßnahmen“ kann man eine Schritt-für-Schritt Übernahme der wesentlichen Gedanken der UN-Kinderrechtskonvention in nationale Gesetze, Verordnungen und Vorschriften verstehen sowie das Zurverfügungstellen der für die Umsetzung notwendigen Ressourcen. Die Kinderrechte aus der UN-Kinderrechtskonvention werden also dann direkt einklagbar, wenn Regierungen entsprechende Gesetze in ihren Ländern verabschieden. In Deutschland wurden die UN-Kinderrechte beispielsweise zur Entwicklung des Kinder- und Jugendhilferechtes (KJHG) in 1990/91 sowie zu dessen Reform (KJSG) in 2021 herangezogen. Außerdem stützte die UN-Kinderrechtskonvention die lang herbeigesehnte Einführung des Rechts auf Gewaltfreie Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB) im Jahr 2000 in das Bürgerliche Gesetzbuch.

Wenn Konventionsrecht und Landesrecht sich widersprechen, sollen die besser für das Kind geeigneten Rechte erhalten bleiben (Artikel 41 UN-KRK). Zudem sollen bereits bestehende nationale Gesetze im Sinne der UN-Kinderrechte interpretiert werden. Sogar das deutsche Grundgesetz ist völkerrechtskonform anzuwenden und auszulegen. Wer sich eine tiefgehende juristische Auslegung anschauen will, möge sich durch diese Rechtsexpertise des Deutschen Instituts für Menschenrechte durchbeißen.

Der UN-Kinderrechtsausschuss, bestehend aus 18 gewählten Fachpersonen in Genf, erhält die oben erwähnten Staatenberichte mit Fortschritten und Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Kinderrechte. Außerdem erhält er von Nichtregierungsorganisationen geschriebene Schattenberichte (die – wer ahnt es – auch kritische Stimmen, teilweise von Kindern und Jugendlichen selbst, zu Wort kommen lassen). Der Ausschuss ist zwar befugt, nach Analyse der Berichte Stellungnahmen abzugeben, auf Mängel hinzuweisen und Empfehlungen auszusprechen sowie einen Staat wegen Kinderrechtsverletzungen beziehungsweise fehlendem Schutz vor Kinderrechtsverletzungen zu rügen. Er hat allerdings keine Mittel, um Sanktionen zu erteilen, sondern muss durch seine „öffentliche Schelte“ auf Verbesserung hoffen. Der Ausschuss veröffentlicht zudem in unregelmäßigen Abständen Allgemeine Bemerkungen zur Konkretisierung und Interpretation der einzelnen Konventionsrechten. Diese General Comments können in ihrer Gesamtheit hier auf Englisch und einige hier in einer deutschen Übersetzung nachgelesen werden. Eine*n Sonderberichterstatter*in, wie es für manche andere Menschenrechtskonventionen vorgesehen ist, gibt es bei der UN-Kinderrechtskonvention nicht.

Seit 2015 untersucht und überwacht eine Monitoringstelle, die beim Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelt ist, die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Auch sie spricht Empfehlungen aus, wie die UN-Kinderrechte besser umgesetzt werden können. Sie berät die Politik in Bund, Ländern und Kommunen sowie die Justiz, Anwaltschaft und Zivilgesellschaft bei der Auslegung und kindgerechten Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Die Monitoringstelle hat jedoch keine Befugnis, Beschwerden nachzugehen oder in Einzelfällen rechtliche Beratung anzubieten.

Vor den vier Menschenrechtsgerichtshöfen, die es weltweit gibt, können Kinder aus unterschiedlichen Gründen ihre Rechte nicht direkt einklagen. Im Einzelnen sind dies:

  • der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (seit 1959 in Straßburg, Frankreich),
  • der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (seit 1979 in San José, Costa Rica)
  • der Internationale Strafgerichtshof (seit 2002 in Den Haag, Niederlande) und
  • der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte der Völker (seit 2006 in Arusha, Tansania).

Seit 2014 gibt es immerhin ein Individualbeschwerderecht vor dem UN-Kinderrechtsausschuss. Kinder oder ihre Vertreter*innen können sich direkt an den Ausschuss wenden sofern sie den nationalen Rechtsweg ohne Erfolg durchlaufen haben. Sie können Kinderrechtsverletzungen eines Staates anklagen oder den fehlenden Schutz eines Staates einklagen. Der Ausschuss kann außerdem Fälle besonders schwerer Kinderrechtsverletzungen ohne einen direkt Klagenden untersuchen. Aber auch hier bleibt das oben erwähnte Dilemma: Der UN-Kinderrechtsausschuss kann Staaten bloß rügen, er hat keine weiteren Sanktionsmöglichkeiten. Und wieviele Kinder haben überhaupt die Ressourcen, die anwaltschaftliche Vertretung und das Durchhaltevermögen, den nationalen Rechtsweg bis zum Ende zu durchlaufen? Dennoch: Durch die völkerrechtliche Verpflichtung, die Beschwerde anzuerkennen und entsprechende Maßnahmen zur Verbesserung zu ergreifen, ist die Individualbeschwerde ein nicht zu ignorierendes Instrument, mit dem Kinder selbst die Weltöffentlichkeit auf konkrete Menschenrechtsverletzungen ihnen gegenüber aufmerksam machen können.

Zusammenfassend stellen wir fest: Die UN-Kinderrechtskonvention besitzt keine unmittelbare Durchsetzungskraft. Umso wichtiger erscheint in diesem Licht die Lobbyarbeit von Gruppen, Initiativen, Kampagnen, sozialen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt von Kindern selber als „Motor“ zur Umsetzung der Kinderrechte. In Deutschland haben sich über 100 Organisationen zur National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention zusammengefunden. Sie achten darauf, dass die UN-Kinderrechte bei politischen Entscheidungen besser berücksichtigt werden, weisen gegebenenfalls auf Missstände hin und sind für die Schattenberichte an den UN-Kinderrechtsausschuss zuständig.

Und werden UN-Kinderrechte tatsächlich umgesetzt?

Richten wir unseren Blick in die weite Welt hinaus, stellen wir schnell fest: Die UN-Kinderrechtskonvention trägt nur bedingt zur Umsetzung der darin enthaltenen Rechte bei. Die meisten Regierungen haben die UN-Kinderrechtskonvention nicht aus einem besonderen Gerechtigkeitssinn für Kinder heraus unterzeichnet. Oft überwog die „Imagepolitur“ oder die Aussicht auf internationale Gelder. Die sich aus der UN-Kinderrechtskonvention ergebenden Verpflichtungen wurden nicht allzu ernst genommen. Häufig sind UN-Kinderrechte für weniger privilegerte Kinder völlig außer Reichweite. So wird die UN-Kinderrechtskonvention von Kindern im Globalen Süden gelegentlich vernichtend verurteilt:

„Die UN-Kinderrechtskonvention ist nichts als ein Haufen toter Buchstaben, da kaum jemand sie kennt und sie den wenigen, die sie kennen, nichts bedeutet.“

Viviana, 14 Jahre, arbeitendes Kind aus Kolumbien

Und vor „unserer“ Haustüre in Deutschland? Die Bundesregierung war bei der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention der Überzeugung, dass die damalige nationale Gesetzeslage den Ansprüchen und Standards der UN-Kinderrechtskonvention vollends genügten und dass die UN-Kinderrechtskonvention vor allem ein Appell an den Globalen Süden sei (so ähnlich steht es in einer „Denkschrift“ zur Ratifikationsurkunde). Dennoch ratifizierte Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention mit Vorbehalten: so durfte beispielsweise das deutsche Ausländerrecht nicht durch die Konvention berührt werden obwohl es nicht den Maßgaben der Konvention entsprach. Dies benachteiligte vor allem geflüchtete Kinder. Obwohl der Vorbehalt in 2010 zurückgenommen wurde, stellt der UN-Kinderrechtsausschuss immer wieder Verletzungen der Kinderrechte in Deutschland fest, etwa dass:

  • Bildungschancen höchst ungleich verteilt sind,
  • Kinderarmut zu wenig bekämpft wird,
  • geflüchtete Kinder weiterhin ungerecht behandelt werden,
  • die Kinderrechte zu wenig bekannt sind und kaum in Lehrplänen oder Ausbildungsrichtlinien stehen,
  • es keine umfassende Kinderpolitik und viel Kompetenzgerangel gibt,
  • es noch keine*n Bundeskinderrechtsbeauftragte*n gibt,
  • die Kinderrechte noch nicht in der Verfassung stehen.

So wurde Deutschland im Anschluss an die „Abschließenden Empfehlungen“ der UN-Kinderrechtsausschuss vom Deutschen Kinderhilfswerk an vielen Stellen als „kinderrechtliches Entwicklungsland“ angemahnt.

Beim zweiten und bisher letzten Weltkindergipfel im UN-Gebäude in New York trafen im Jahre 2002 Vertretungen von allen unterzeichnenden Staaten mit 400 Kindern und Jugendlichen aus allen Kontinenten zusammen, um die Lage der Kinderrechte zu überprüfen. Die Bundesregierung unterzeichnete damals das Abschlussdokument „A World Fit For Children“ und verpflichtete sich damit zur Entwicklung eines Nationalen Aktionsplanes (NAP). Das hierfür im Anschluss entwickelte Dokument „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010“ sollte unter der Federführung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als Leitfaden für kinderpolitisches Handeln und eine verstärkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland gelten. Obwohl einige Initiativen und Aktionsprogramme aus dem Programm hervorgingen, war ihre Wirkung doch begrenzt und von einem hohen Interpretationsspielraum getrübt.

2010 veröffentlichte die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) im Rahmen dieser Initiativen den ersten „Kinder- und Jugendreport zur UN-Berichterstattung über die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. Ein Zeugnis für die Kinderrechte in Deutschland 2010“. Damit gibt es erstmals einen Bericht aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen gemäß Artikel 44 UN-KRK neben den Staatenberichten und den Schattenberichten aus der Zivilgesellschaft. Der Zweite Kinder- und Jugendreport („Zweite Kinderrechtereport“) wurde von der National Coalition Deutschland in 2019 veröffentlicht.

Eine verfassungsmäßige Erwähnung könnte unter Umständen die UN-Kinderrechte zu mehr Durchsetzungskraft verhelfen. Diese Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz wird seit 1992 immer wieder diskutiert, begleitet von großangelegten Kampagnen diverser Nichtregierungsorganisationen und von Politiker*innen mehrerer Parteien unterstützt. Am wahrscheinlichsten würde eine entsprechende Formulierung als eigener Absatz in Artikel 6 GG auftauchen, wo es um Erziehungsrechte und -pflichten geht. Bedenken wurden zwar laut, dass der ebenfalls im Grundgesetz festgehaltene „besondere Schutz der Familie“ (Artikel 6 Abs. 2 GG) gefährdet wäre. Im Jahre 2022 sprachen sich laut dem Kinderreport des DKHW dennoch 94 Prozent der Kinder und Jugendlichen sowie 84 Prozent der Erwachsenen ausdrücklich dafür aus, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Zwar scheiterte die damalige Koalition aus CDU, CSU und SPD in 2021 bei einem ersten Anlauf, Kinderrechte ins Grundgesetz zu implementieren. Doch die Regierungsparteien unter Führung der SPD haben sich im Koalitionsvertrag 2022 erneut auf das Vorhaben verständigt. Mal schauen, was daraus wird.

Letztendlich stellt die Gesamtheit der oben erwähnten Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Kinderrechte nur einen Tropfen auf den heißen Stein dar bis sich eine gesamtgesellschaftliche „Kinderrechte-Kultur“ entwickelt. Zu einer solchen Kultur würden aber nicht nur die UN-Kinderrechte gehören. In einem gesonderten Text weise ich auf Stolpersteine und Herausforderungen eines rein juristischen Blicks auf Kinderrechte hin. Wie eingangs erwähnt, gibt es unterschiedliche Perspektiven auf und Zugänge zu den Kinderrechten, wovon ich im Folgenden einige historische und aktuelle Beispiele aufzeige. Einige dieser Beispiele entstammen anderen Gebieten abseits des juristischen.

Kinderrechte abseits der UN-Kinderrechtekonvention?

Erweitern wir unseren Blick auf Kinderrechte, stellen wir fest: Die Mitglieder der Vereinten Nationen haben Kinderrechte nicht erfunden. Vorangegangen waren den UN-Kinderrechten beispielsweise

  • die schwedische Reformpädagogin & konservative Frauenrechtlerin Ellen Key, die um 1900 „das Jahrhundert des Kindes“ ausrief und sich für bessere Aufwachsbedingungen und die Gleichstellung unehelicher Kinder einsetzte,
  • der polnische Kinderarzt, Pädagoge und Autor Janusz Korczak, der in seinen „Kinderrepubliken“ ab 1911 partizipative Strukturen aufbaute und im Magna Charta Libertatis das Recht des Kindes „auf seinen Tod, auf den heutigen Tag und so zu sein, wie es ist“, einforderte,
  • der russische Verein Freie Erziehung der Kinder, der reformpädagogischen Bestrebungen nachging und in einer „Moskauer Deklaration der Rechte des Kindes“ von 1918 vor allem Freiheits- und Gleichheitsrechte der Kinder hervorhob,
  • die britische Kinderrechte-Aktivistin Eglantyne Jebb, die ab 1919 Save the Children ins Leben rief um die traumatischen Folgen des I. Weltkriegs für Kinder zu mildern,
  • der britische Pädagoge und Lehrer Alexander Sutherland Neill, der 1921 die demokratische Schule Summerhill mit Schüler*innenregierung und freiwilligen Unterrichtsbesuch gründete,
  • Vertreter*innen der US-Kinderrechtsbewegung (Children’s Liberation Movement) wie Richard Farson oder John Holt, die in den 1970er und 1980er Jahren den paternalistischen Ansatz des Kinderschutzes kritisierten und die Emanzipation der Kinder voranzutreiben versuchten,
  • sowie Vertreter*innen der europäischen Antiautoritären Erziehung beziehungsweise der Antipädagogik wie Ekkehard von Braunmühl, Christiane Rochefort oder Hubertus von Schoenebeck, die ebenfalls seit den 1970er Jahren pädagogische Ungleichheitsbeziehungen grundsätzlich in Frage stellten.

Auch wenn diese Personen den Begriff „Kinderrechte“ kaum in den Mund nahmen, stellten sie Forderungen, die oftmals denen der UN-Kinderrechtskonvention um Längen voraus waren.

Der UN-Kinderrechtskonvention gingen außerdem zwei internationale Erklärungen voraus: die Genfer Erklärung über die Rechte des Kindes von 1924 und die UN-Erklärung über die Rechte des Kindes von 1959. Diese stellten unverbindliche Absichtserklärungen zur Versorgung und zum Schutz von Kindern dar – verständlich im Kontext der Lage der Kinder nach dem I. und II. Weltkrieg. Im Vordergrund stand jedoch der europäisch-bürgerlich geprägte Gedanke, dass Kinder geschont und beschützt werden müssen, um sich in der langen Phase der Kindheit auf das Erwachsensein vorzubereiten. Obwohl die Erklärung von 1959 Kinder immerhin als aktive Rechtssubjekte wahrnahm, enthielten beide Vereinbarungen eher Verpflichtungen der Erwachsenen gegenüber Kindern. Letzteren wurden kaum eigene aktive Rollen zugetraut.

Die parallel zur UN-Kinderrechtskonvention entwickelte Afrikanische Charta über die Rechte und das Wohlergehen des Kindes von 1990 spricht unter anderem Praxen in verschiedenen afrikanischen Ländern an, wie z.B. die Apartheid, die Zwangsehe oder die Mädchenbeschneidung. Interessanterweise beinhaltet sie sowohl Rechte als auch Pflichten. Innerhalb der Familie soll das Kind für den Zusammenhalt der Familie Sorge tragen und die Eltern und älteren Menschen respektieren. Gegenüber dem Staat hat das Kind die Pflicht, der nationalen Gemeinschaft zu dienen, indem es seine intellektuellen und physischen Fähigkeiten einbringt.

Die Europäische Konvention über die Ausübung der Rechte des Kindes von 1996 beinhaltet vor allem verfahrensrechtliche Maßnahmen, welche dem Kind die Ausübung seiner Rechte ermöglichen, beziehungsweise erleichtern sollen. So soll das Kind in familienrechtlichen Gerichtsverfahren von gerichtlichen Behörden oder Rechtsvertretungen begleitet werden um zu garantieren, dass das Recht des Kindes auf Information erfüllt und die Sicht des Kindes gehört wird. In Sachen Beteiligung hinkt sie jedoch der UN-Kinderrechtskonvention hinterher. Im Jahre 2006 veröffentlichte die EU-Kommission außerdem eine EU-Kinderrechtsstrategie, die eine Reihe von Aktivitäten auslöste, um langfristig ein Mainstreaming der Kinderrechte in der europäischen Union und ihrer Außenpolitik zu gewährleisten.

Gibt es „Kinderrechte von unten“?

Wir stellen also fest: Kinderrechte gibt es auch abseits der UN-Kinderrechtskonvention. Interessant wird es, wenn junge Menschen selber eine Vorstellung davon entwickeln, was sie gerecht finden und diese Form der Gerechtigkeit einfordern.

„Das Gegenteil von Rechten sind nicht Pflichten, sondern das Unrecht. Dagegen engagieren wir uns.“

Vier deutsche Jugendliche beim Weltkindergipfel in New York, 2002

Hierfür gibt es viele historische und aktuelle Beispiele, die dem Blick auf Kinder als passive Empfänger*innen von Hilfsangeboten wohlmeindender Erwachsener widersprechen. Einige davon sind:

Neben diesen Zusammenschlüssen junger Menschen gibt es auch unzählige Beispiele einzelner Kinder und Jugendlicher, die sich im Alltag aktiv für eine gerechte Behandlung und mehr Gerechtigkeit einsetzen – Ich wette, Ihnen fallen beim Nachdenken einige ein! Dieses Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis können wir also als „Kinderrechte von unten“ bezeichnen. Die Umsetzung jener hängt zum Teil von den materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen ab, die jungen Menschen zur Verfügung stehen. Im besten Falle führen sie zu einer Aneignung gesellschaftlicher Räume, eine Mitgestaltung privater und sozialer Lebenswelten sowie zu einer Ebnung von Machtungleichgewichten. Erwachsene Menschen müssen sich meines Erachtens fragen, was sie hierzu beitragen können, wie sie junge Menschen begleiten können und welche Verantwortung sie innehaben.

Philip Meade
aktualisiert am 11.07.2022