Adultismus ist in allen heutigen Gesellschaften weit verbreitet. Er durchdringt den Alltag junger Menschen, findet sich in der Familie ebenso wie in pädagogischen Einrichtungen, im öffentlichen ebenso wie im privaten Leben. Adultismus ist so alltäglich und gilt (Erwachsenen und Kindern) als so normal, dass er selten auffällt oder gar als Problem betrachtet wird. Er versteckt sich häufig sogar hinter Handlungen und Maßnahmen, die beanspruchen oder vorgeben, dem Schutz der Kinder zu dienen, wie dem Kinderarbeitsverbot. Er schwingt mit, wenn Entscheidungen auf familiärer, schulischer oder politischer Ebene für Kinder oder über ihre Köpfe hinweg getroffen werden, von der Einrichtung des Kinderzimmers bis zum Bau einer Atomkraftfabrik. Er beeinflusst die Gestaltung des öffentlichen Raumes, wenn etwa auf Plätzen das Ballspielen verboten wird oder Straßen dem Autoverkehr vorbehalten werden. Er manifestiert sich auch in pädagogischen und psychologischen Diskursen über das, was ein Kind in einem bestimmten Alter können und lernen soll oder was eine ‚gute‘ oder ‚richtige Kindheit‘ ausmacht. Er kann sich sogar in vermeintlicher Liebe ausdrücken, wenn hiermit Erwartungen an das Kind verknüpft werden. Kurz: Adultismus ist omnipräsent im Leben von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen.

Kinder und Jugendliche erleben Adultismus auf vielfältige Weise: als Geringschätzung, Missachtung, Entwürdigung, Entwertung, Unterstellung, Zuschreibung, Stigmatisierung, Vereinnahmung, Überwältigung, Fremdbestimmung, Unterwerfung, Benachteiligung, Marginalisierung, Ausschluss oder Bestrafung. Er wird mitunter als direkte oder indirekte Gewalt durch Erwachsene erfahren, die Macht über sie haben. Erwachsene wiederum setzen diese Macht bewusst oder unbewusst ein, um bestimmte Ziele zu erreichen, eigene Bedürfnisse zu befriedigen, sich Ängsten zu entziehen, Dominanz- und Kontrollwünschen nachzugeben oder sich das Leben bequemer zu machen. Manchmal einfach nur, weil etwas ‚so gemacht wird‘ und zwar vermeintlich schon immer. Der Pädagoge und Aktivist John Bell sieht eine Ursache hierfür darin, dass adultistische Mechanismen längst von Erwachsenen wie Kindern internalisiert wurden und als soziale Realität akzeptiert werden.

Junge Menschen gehen völlig unterschiedlich mit erlebtem Adultismus um. Bei einigen führt Adultismus zu Unsicherheit, Hilflosigkeit und Selbstentwertung. Bei anderen führt er zu Frustration, Wut und Widerstand. Wiederum andere resignieren, verstummen oder geben den erlebten Schmerz an Schwächere weiter. Viele junge Menschen versuchen aber auch, trotz der erfahrenen Repression, tragfähige Beziehungen zu Erwachsenen aufzubauen und ein befriedigendes Leben zu führen.

Der Terminus Adultismus leitet sich aus dem lateinischen Wort adultus („Erwachsene*r“) ab. Das angehängte Suffix ‑ismus weist gewöhnlich auf ein (philosophisches oder religiöses) Glaubenssystem oder ein gesellschaftliches Verhältnis hin. Adultismus beruht auf grundlegenden Machtasymmetrien zwischen ‚vollwertigen Menschen‘ (Erwachsenen) einerseits und ‚werdenden Menschen‘ (Kindern oder Jugendlichen) andererseits. Er taucht oft im Kontext von Überlegenheit, Privilegien, Bequemlichkeit und pauschalisierenden Vorannahmen über das Kindsein auf.

Adultismus äußert sich in dominantem und abwertendem Verhalten gegenüber Jüngeren, verfestigt sich in Normen, Werten und Traditionen, schreibt sich aber auch in sozialen, rechtlichen und institutionellen Strukturen ein. Die bestehende Machtungleichheit zwischen „Minderjährigen“ und „Volljährigen“ wird entweder vorsätzlich oder ohne bewusste Absicht ausgenutzt und durch eine langsame, aber stetige Verschiebung von Zugängen, Ressourcen und Privilegien zum Vorteil der Erwachsenen weiter verstärkt. Adultismus kann auch zwischen jungen Menschen verschiedenen Alters auftreten, insoweit sie selbst schon adultistische Verhaltensweisen verinnerlicht haben. Er lebt in Gesellschaften fort, die das Machtgefälle nicht nur akzeptieren, sondern auch immer wieder aktiv herstellen. Adultismus kann also als Diskriminierungsachse und Machtstruktur verstanden werden, die ‚Erwachsene‘ gegenüber ‚Kindern‘ bevorteilt, sich auf vielerlei Arten manifestiert und vielfältige, meist negative Folgen für die Betroffenen nach sich zieht. Vor allem im englischen Sprachraum wird adultism auch als eine Form der Unterdrückung (oppression) und der Ausbeutung (exploitation) von Kindern verstanden. Beispiele für andere ‚Ismen‘, die auf Diskriminierungs- und ungleiche Machtverhältnisse hinweisen, gibt es viele, mal mehr, mal weniger geläufige: Rassismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus, Antisemitismus, Bodyismus und weitere.

Adultismus ist eine Form der Altersdiskriminierung. Häufig wird Adultismus von Ageismus (die Diskriminierung von älteren Menschen) unterschieden. Ageismus fand, im Gegensatz zu Adultismus, bisher große Aufmerksamkeit und führte einen neuen gesellschaftlichen Diskurs über die Beteiligung von alten Menschen am Arbeitsmarkt und im sozialen Leben herbei. Entsprechende Diskriminierungsverbote finden sich z.B. im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006. Als Diskriminierungsachse erfährt Adultismus dagegen erstaunlich wenig Beachtung: in den soziologischen, psychologischen und pädagogischen Fachdiskursen über Diskriminierung ebenso wie in den Erziehungs-, Bildungs- und Kinder- und Jugendhilfesystemen, in denen es täglich ganz konkret um das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen geht.

Adultismus ist die einzige gesellschaftliche Diskriminierung, die (fast) alle Menschen miteinander teilen. Die Besonderheit, dass Menschen im Laufe ihres Lebens beide Positionen – vom unterprivilegierten Kind zum privilegierten Erwachsenen – erleben können, ist bei anderen Diskriminierungsachsen nicht ohne weiteres möglich. Die Aussicht, irgendwann den selbst erlebten Adultismus überwunden zu haben, wirkt als Katalysator, um sich „erwachsen“ zu verhalten und somit die Positionen schneller zu wechseln. Wir werden so in der Kindheit dazu konditioniert, Diskriminierungs- und ungleiche Machtverhältnisse normal zu finden und es erstrebenswert zu betrachten, nicht zu denen zu gehören, die ‚unten‘ sind. Die Antidiskriminierungstrainerin ManuEla Ritz macht darauf aufmerksam, dass dies dazu beiträgt, im späteren Leben andere Diskriminierungsformen deshalb eher hinzunehmen und sich seltener gegen sie zu wehren.


Interesse geweckt? Dieser Abschnitt lehnt sich an unser Buch „Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder – Eine kritische Einführung“ von Manfred Liebel und Philip Meade an, das im Herbst 2022 im Bertz+Fischer Verlag erscheint.

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Philip Meade & Manfred Liebel
aktualisiert am 01.06.2022