Welche Sichtweisen auf Kinderrechte gibt es?

Beginnen werde ich mit einem eher „erwachsenen“ Blick auf Kinderrechte, nämlich auf die Kinderrechte der Vereinten Nationen (UN), die als spezielle Rechte aus Menschenrechtsdebatten im Völkerrecht hervorgegangen sind. Ich nenne sie „Kinderrechte von oben“, weil sie auf dem System „Rechtsinhaber*in und Verantwortungsträger*in“ (z.B. Bürger*in und politischer Souverän) beruhen. Jene stehen per Definitionem in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Sie werden daher als Wohlfahrtsrechte verstanden, weil sie zum einen von der machtüberlegenen Partei gewährt werden, zum anderen häufig im Sinne eines paternalistischen Kinderschutzes verstanden werden.

In einem gesonderten Text kritisiere ich diesen rein juristischen Blick auf Kinderrechte und weise auf Stolpersteine und Herausforderungen der UN-Kinderrechtskonvention hin.

Von dort führe ich zu der Frage, wie Kinder selber ihre Rechte verstehen, einfordern und in Anspruch nehmen und somit häufig über Verträge, Gesetze und Gerichte hinausweisen. In der Sozialwissenschaft werden diese Rechtsverständnisse mitunter als „subjektive Rechte“, „Handlungsrechte“ oder „ungeschriebene Rechte“ bezeichnet. Ich nenne sie „Kinderrechte von unten“, weil sie die Perspektive der machtunterlegenen Gruppe hervorheben und wirkungsvolle Kinderbeteiligung fördern. Sie werden von jungen Menschen aktiv eingefordert, um ihr Leben zum Besseren zu gestalten.

Im günstigsten Falle tragen Kinderrechte zu einem strukturellen Empowerment (also zu einer „Ermächtigung“) von jungen Menschen auf einer gesellschaftspolitischen Ebene bei. Ähnlich wie in emanzipatorischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts (z.B. in der Frauenbewegung und im Feminismus, in der Schwarzen Bürger*innenrechtsbewegung, in der Queer-Bewegung oder in der Behindertenbewegung) geht es darum, sich aus einer Machtunterlegenheit zu befreien und gegen Diskriminierung vorzugehen. Empowerment ermöglicht eine aktive Beteiligungskultur und stärkt nachhaltig die Stellung der Kinder in gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Auch die UN-Kinderrechte können in Fällen, in denen sie sich quasi als Werkzeug eignen, hierzu beitragen.

Diese Perspektiven und Zugänge können sich ergänzen, doch teilweise stehen sie auch in einem Spannungsverhältnis zueinander. Schauen wir einmal näher an, wie die UN-Kinderrechte entstanden sind, wie sie aufgefasst und umgesetzt werden.

Was verstehen die Vereinten Nationen unter Menschenrechten?

Bevor wir uns der Entstehung und den Inhalten der offiziellen Menschenrechts- und Kinderrechtsdokumente annähern, ist es sinnvoll, uns erst mal mit Kindern zusammen die Frage zu stellen, was denn ein Recht überhaupt ist. Recht und Gesetz werden leicht verwechselt, aber wenn wir Kinder fragen, treffen sie mit ihren Antworten meist den Kern der Sache:

„Rechte sind das, was ich darf und das, was ich bekomme!“

Schülerin einer 3. Klasse aus unseren Kinderrechte-Workshops

In Diskussionen stellen Kinder häufig fest, dass sie Rechte einfordern können, weil ihnen etwas zusteht. Ein Recht ist also ein Anspruch gegenüber einer Person oder Institution, etwas zu tun oder zu unterlassen. In der juristischen Fachsprache ausgedrückt: Es gibt Positivrechte, die eine Handlungspflicht begründen und Negativrechte, die eine Unterlassungspflicht begründen. Dieser Anspruch wird normalerweise von der Person, die Rechte hat, oder deren Vertretung erhoben. Diese Rechte können als eine Art Garantie der verpflichteten Person verstanden werden, bei deren Nichteinhaltung Sanktionen eingeleitet werden können. Hinter dem Recht steht eine bestimmte Wertvorstellung.

Um Analogien aus dem Alltag zu bemühen: Rechte funktionieren ähnlich wie Versprechen. Wenn ein Onkel seiner achtjährigen Nichte verspricht, am nächsten Tag mit ihr ins Kino zu gehen, hat sie sozusagen ein Recht auf diesen Kinobesuch und kann dieses Recht lautstark einklagen. Oder auf anderer Ebene: Wenn eine Mutter einen Brief für ihren 14-jährigen Sohn im Briefkasten findet, darf sie diesen im Normalfall nicht ohne sein Einverständnis öffnen, denn das deutsche Grundgesetz verspricht allen Bürger*innen ein Postgeheimnis. Gesetze sind nichts anderes als kodifizierte (also juristisch festgeschriebene) Rechte und Pflichten, die für einen bestimmten Kontext konkretisiert wurden und in einer Gesellschaft (zumindest in der Theorie) verbindliche Anerkennung finden.

Gesetzesrechte werden von gesetzgebenden Institutionen in einem bestimmten regionalen Kontext geschaffen und häufig geändert. Menschenrechte beruhen dagegen auf ethisch-moralischen Werten: Ihnen zugrunde liegt die Idee der Menschenwürde. Menschenrechte sind demnach allen Menschen angeboren! Jeder Mensch kann seine Menschenrechte beanspruchen, allein aufgrund der Tatsache, dass er* oder sie* ein Mensch ist. Die UN-Menschenrechte haben den Anspruch, für alle Menschen weltweit gültig zu sein und brauchen keine Rechtfertigung (sie sind also universell gültig). Sie können zwar eingeschränkt werden, aber sie können Menschen nicht aberkannt werden, egal welche Verbrechen sie vorher selber verübt haben (sie sind also unveräußerlich). Und einzelne Menschenrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, indem sie zum Beispiel in wichtig und weniger wichtig aufgetrennt werden (sie sind also unteilbar). Diese drei „u“s lassen sich gut merken.

UN-Menschenrechtsverträge sind Teil des internationalen Völkerrechts. UN-Menschenrechte bieten den Menschen Garantien über die nationale Rechtsordnung hinaus: Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, die Menschenrechte

  • zu achten,
  • zu schützen und
  • zu gewährleisten.

Das Völkerrecht umfasst zwischenstaatliche Verträge und die Verpflichtung, diese innerhalb der Staaten bekannt zu machen und zu achten. Die UN-Menschenrechte verpflichten die Organe des unterzeichnenden Staates, aber nicht die einzelnen Bürger*innen dieses Staates. Diese sind allerdings ethisch-moralisch dazu verpflichtet, die Menschenrechte der anderen zu respektieren, getreu dem Motto:

„Was du nicht willst was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“

Sprichwort

Kinderrechte sind Menschenrechte, die auf die spezifische Situation der Kinder eingehen. Dass es gesonderte Kinderrechte gibt, liegt darin begründet, dass Kinder Interessen und Bedürfnisse haben, die sich teilweise von denen der (privilegierten) Erwachsenen unterscheiden.

Wie entstanden die UN-Kinderrechte? („Kinderrechte von oben“)

Im Jahre 1900 rief die schwedische Reformpädagogin Ellen Key das Jahrhundert des Kindes aus. Auch andere Pädagog*innen wie Janusz Korczak, Alexander Neill und Eglantyne Jebb setzten sich Anfang des 20. Jahrhunderts für die Rechte der Kinder ein.

1924 beschloss der Völkerbund die Genfer Erklärung über die Rechte des Kindes, die Kindern besonderen Schutz zusprach. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eigene Rechte der Kinder, sondern vor allem um Pflichten der Eltern und Erwachsenen gegenüber den Kindern als (rechtlich unverbindliche) Absichtserklärung. So beginnen alle fünf Rechte mit den Worten: „Das Kind soll …“. Mit der Auflösung des Völkerbundes 1946 verlor die Genfer Erklärung ihre Gültigkeit. 1959 folgte die UN-Erklärung über die Rechte der Kinder. Die darin enthaltenen unverbindlichen zehn Grundsätze suggerierten zwar, dass das Kind ein eigenes Rechtssubjekt sei, es wird jedoch nur als Objekt von Versorgungs- und Schutzmaßnahmen, nicht als aktiv handelnder Mensch verstanden. Obwohl dies angesichts der prekären Lage vieler Kinder nach den Weltkriegen verständlich ist, rechtfertigt es nicht, die Kinder nur als Personen zu verstehen, die geschont und beschützt werden müssen, um sich in der langen Phase der Kindheit auf das Erwachsensein vorzubereiten.

Zwanzig Jahre später, zum „Jahr des Kindes“ (1979), regte Polen die Überarbeitung dieses Dokuments an. Es folgten etwa zehn Jahre internationale Verhandlungen zwischen Politiker*innen und Jurist*innen (teilweise auch mit Nichtregierungsorganisationen). Die UN-Kinderrechtskonvention wurde nach dem Konsensprinzip schließlich am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Die lange Beratungsdauer lag unter anderem an den Kontroversen, ob das Leben eines Kindes bereits vor oder erst nach der Geburt beginnt, über die Religionsfreiheit, die Adoption und darüber, ab welchem Alter Kinder an bewaffneten Konflikten teilnehmen dürfen. Der Text besteht also aus vielen Kompromissen über das Verhältnis Kind – Familie, Sozialpolitik – staatliche Macht usw.

Ein der Konvention zugrundeliegender Gedanke lautet: Alle Kinder der Welt sollen die gleichen Rechte haben (hierfür gibt es gleich in Artikel 2 UN-KRK ein Diskriminierungsverbot). Laut Definition der Vereinten Nationen sind „Kinder“ alle Menschen vor ihrem 18. Geburtstag, solange kein anderes Landesrecht zutrifft. Auf ihre UN-Kinderrechte kann sich somit etwa ein Drittel der Weltbevölkerung berufen!

Welche Rechte werden gewährt?

Dieses Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, wie es im offiziellen Wortlaut heißt, ist 1990 in Kraft getreten, kurz nachdem sie der 20. Staat als völkerrechtlich bindenden Vertrag ratifizierte. Es beginnt mit einer Präambel, die beschreibt, warum es die Konvention gibt und für wen sie bestimmt ist. Danach teilt sie sich in drei Teilen auf:

  • Teil I: Artikel 1 bis 41 enthalten verschiedene bürgerliche, kulturelle und soziale Rechte.
  • Teil II: Artikel 42 bis 45 beziehen sich auf die Bekanntmachung und Anwendung der Konvention.
  • Teil III: Artikel 46 bis 54 beziehen sich auf die Ratifizierung und das Inkrafttreten der Konvention.

Die 41 Artikel aus Teil I lassen sich grob in Schutzrechte, Versorgungs- beziehungsweise Förderrechte und Beteiligungsrechte unterteilen. Auf Englisch lassen sich diese „3 p“s besser merken:

  • protection rights,
  • provision rights,
  • participation rights.
Wer es genau nachlesen will, findet hier die volle UN-Kinderrechtskonvention in Wortlaut in ihrer deutschen Übersetzung.

Die UN-Kinderrechte wurden unter anderem von UNICEF in einer für junge Menschen verständlicheren Sprache umformuliert und in zehn Rechte zusammengefasst. Jedes Kind hat demnach ein Recht auf:

  1. Gleichheit
  2. Gesundheit
  3. Bildung
  4. Spiel und Freizeit
  5. Freie Meinungsäußerung, Information und Gehör
  6. Gewaltfreie Erziehung
  7. Schutz im Krieg und auf der Flucht
  8. Schutz vor wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung
  9. Elterliche Fürsorge
  10. Betreuung bei Behinderung

Zwei Zusatzprotokolle zur Kinderrechtskonvention aus dem Jahr 2000 sollen den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten und in den Bereichen Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie verbessern. Ein drittes Zusatzprotokoll von 2014 enthält ein Individualbeschwerderecht für Kinder vor dem UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes in Genf (siehe unten). Inzwischen hat auch Deutschland alle drei Zusatzprotokolle ratifiziert.

In öffentlichen und privaten Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, bei Gerichtsverfahren, in Verwaltungsbehörden oder bei der Gesetzgebung sollen laut Artikel 3 UN-KRK die „best interests of the child“ (auf Deutsch etwas problematisch mit dem historisch belasteten „Wohl des Kindes“ übersetzt) bei Entscheidungen vorrangig berücksichtigt werden. Dabei bleibt das Kindeswohl, wie auch in der deutschen Rechtsprechung, ein unbestimmter Rechtsbegriff, der erst für den Einzelfall ausgelegt werden muss. Wie weit der Kindeswille dabei konkret berücksichtigt wird, bleibt in vielen Fällen der Interpretation der Gerichte überlassen.

Ähnliches gilt für die anderen Artikel der UN-Kinderrechtskonvention: Die darin enthaltenen Rechte sind eher allgemein gehalten und bedürfen einer juristischen Interpretation. Dies kann Fluch und Segen zugleich sein, denn so können die Kinderrechte zwar für alle Kinder weltweit Gültigkeit erlangen, ihre positive Bedeutung für das individuelle Kind hängt jedoch maßgeblich von der Konkretisierung und Übersetzung in den Alltag des Kindes ab.

Hat die UN-Kinderrechtskonvention etwas verändert?

Zur Erinnerung: Anfang des 20. Jahrhunderts hatten Kinder in Europa noch so wenig Rechte wie Haustiere – sie waren Eigentum des männlichen Familienoberhauptes, so wie Gegenstände oder Tiere des Hauses. (Ähnlich erging es im Übrigen auch der Ehefrau!) Dies änderte sich zwar langsam nach den Jugendrevolten Ende der 1960er Jahre. Doch es ist auch ein besonderes Verdienst der UN-Kinderrechtskonvention von 1989, dass Kinder als eigene, von ihren Eltern teilweise unabhängige Rechtssubjekte mit eigenen Beteiligungsrechten juristisch anerkannt werden.

Erwachsene müssen seitdem Kinder als Verhandlungspartner*innen ernst nehmen, sie nach ihrer Meinung fragen und diese auch bei Entscheidungen in allen sie betreffenden Belangen berücksichtigen – so steht es in Artikel 12 UN-KRK, ähnlich auch in einigen deutschen Gesetzen. Damit unterscheidet sich die UN-Kinderrechtskonvention von noch immer vorherrschenden Erziehungsvorstellungen denen zufolge Erwachsene das Sagen haben. Dennoch stellt die UN-Kinderrechtskonvention die Kinder den Erwachsenen nicht gleich und wirft das elterliche Erziehungsrecht nicht über Bord. Die Eltern haben das Recht und die Pflicht, das Kind bei der Ausübung der UN-Kinderrechte „in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen“ (Artikel 5 UN-KRK).

Die UN-Kinderrechtskonvention stellt die bislang wichtigste internationale Vereinbarung zu den Kinderrechten und gleichzeitig den meistunterzeichneten Völkerrechtsvertrag der Welt dar. Sie wurde inzwischen von 196 Staaten ratifiziert. Das sind alle UN-Staaten der Welt außer den USA (wo die Ratifikation unter anderem von einer konservativ-christlichen Elternschaft bis heute boykottiert wird). Manche Staaten haben zwar bei der Ratifikation einen „Vorbehalt“ eingereicht, so ursprünglich auch Deutschland bei seiner Ratifikation in 1992. Dessen Gültigkeit wird jedoch juristisch bestritten. Deutschland nahm ihn 2010 aufgrund von Kritik an der durch den Vorbehalt erschaffenen Diskriminierung geflüchteter Kinder wieder zurück. Es scheint also zumindest in der Theorie einen globalen Grundtenor zu geben, Kinder gut behandeln zu wollen.

Friede Freude Eierkuchen für alle Kinder weltweit also? Leider nicht, denn Rechte werden ja nicht immer umgesetzt. Menschenrechte werden tagtäglich mit Füßen getreten, sie waren noch nie selbstverständlich. Außerdem: Die UN-Kinderrechtskonvention, als völkerrechtlicher Vertrag, stellt zwar geltendes deutsches Recht dar, beinhaltet aber keine direkt einklagbaren Rechte. Das Kind oder sein*e Vertreter*in kann sich zwar vor einem Gericht auf die UN-Kinderrechte berufen, in erste Linie stellen sie jedoch eine Staatenverpflichtung dar. Wir sind also gezwungen, uns die Frage zu stellen:

Wie sollen die UN-Kinderrechte umgesetzt werden?

Die unterzeichnenden Staaten sind mit ihrer Ratifikation die völkerrechtlichen Verpflichtungen eingegangen,

  • die Kinderrechte bei Erwachsenen und Kindern bekannt zu machen (Artikel 42 UN-KRK),
  • geeignete Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstige Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte zu ergreifen (Artikel 4 UN-KRK) und
  • alle fünf Jahre einen Bericht über die Umsetzung der UN-KRK beim UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes einzureichen (Artikel 44 UN-KRK).

Unter „geeignete Maßnahmen“ kann man eine Schritt-für-Schritt-Übernahme der wesentlichen Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention in nationale Gesetze, Verordnungen und Vorschriften verstehen. Außerdem müssen die für die Umsetzung notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden. Die UN-Kinderrechte werden erst dann direkt einklagbar, wenn Regierungen entsprechende Gesetze in ihren Ländern verabschieden. In Deutschland wurden sie beispielsweise zur Entwicklung des Kinder- und Jugendhilferechtes (KJHG) in 1990/91 sowie zu dessen Reform (KJSG) in 2021 herangezogen. Außerdem trug die UN-Kinderrechtskonvention dazu bei, das Recht auf Gewaltfreie Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB) endlich im Jahr 2000 in das Bürgerliche Gesetzbuch aufzunehmen.

Wie kommen die Kinderrechte in deutsche Gesetze?

Ein anschauliches Beispiel ist der lange und beschwerliche Weg vom Züchtigungsrecht des Vaters bis zum Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung.
1896 wurde in Deutschland ein Züchtigungsrecht des Vaters über seine Kinder gesetzlich eingeführt. Es lautete: „Kraft Erziehungsrechts darf der Vater angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden.“ (§ 1631 Abs. 2 BGB der damaligen Fassung). Erst 1968 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das in Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes verankerte „Elternrecht“ anders als alle anderen Grundrechte verstanden werden muss, nämlich ausschließlich als Elternverantwortung. Das Bundesverfassungsgericht legte damit ausdrücklich fest, dass das Kind eigene Rechte und eine eigene Menschenwürde hat (BVerGE 24, 119, 144) und die Eltern verpflichtet sind, zum Wohle des Kindes zu handeln.
Die erste große Kindschaftsrechtsreform 1980 brachte den Übergang der elterlichen Gewalt zur elterlichen Sorge, die Pflicht der Eltern, auf die Belange ihrer Kinder mehr als bisher einzugehen sowie Angelegenheiten der Kinder mit ihnen zu besprechen. Aufgrund eines Vorstoßes des Deutschen Kinderschutzbundes und des Deutschen Juristinnenbundes wurde bei den Beratungen zum Kindschaftsrechtsreform erstmals erwogen, ein Züchtigungsverbot einzuführen. Doch der Bundestag lehnte ein Gewaltverbot ab und führte als Kompromiss den Satz „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig“ in § 1631 Abs. 2 BGB ein. Dies wurde damit begründet, die Eltern nicht kriminalisieren zu wollen.
Obwohl inzwischen Gewalt in der Erziehung nicht mehr gesellschaftlicher Konsens war, übte erst die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 19 UN-KRK) einen stärkeren Druck auf den Gesetzgeber aus. Länder wie Dänemark, Schweden, Norwegen und Österreich legten bald darauf Gewaltverbote in ihren Gesetzen fest. In Deutschland wurden im Rahmen der nächsten Reform des Kindschaftsrechts von 1998 Akte körperlicher Gewalt weniger umfassend formuliert: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig“.
Erst unter wachsendem Druck vieler politischer Parteien, Verbände und Wissenschaftler*innen sowie unter der neuen rot-grünen Regierung wurde § 1631 Abs. 2 BGB im Jahre 2000 durch das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung wie folgend geändert: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“. Obwohl hiermit jeder „Klapps auf den Po“ und jede Demütigung unzulässig ist, wird den Eltern nicht jede Möglichkeit von Sanktionen genommen. Bei erheblichem „Fehlverhalten“ von Kindern dürfen Eltern auch künftig z.B. das Taschengeld kürzen oder eine sonst gestattete Fernsehsendung verbieten. Verstoßen die Eltern gegen das Gewaltverbot, so soll ihnen und den betroffenen Kindern und Jugendlichen in erster Linie Hilfe vom Jugendamt angeboten werden. Denn Ziel des Gesetzes ist die Ächtung von Gewalt in der Kindererziehung – und nicht die Kriminalisierung der Familie.

[Zusammenfassung von Lore Maria Peschel-Gutzeit: Das Kind als Träger eigener Rechte - Der lange Weg zur gewaltfreien Erziehung und weiteren Quellen.]

Wenn Konventionsrecht und Landesrecht sich widersprechen, sollen die besser für das Kind geeigneten Rechte erhalten bleiben (Artikel 41 UN-KRK). Zudem sollen bereits bestehende nationale Gesetze im Sinne der UN-Kinderrechte interpretiert werden. Auch das deutsche Grundgesetz ist völkerrechtskonform anzuwenden und auszulegen. Die UN-Kinderrechtskonvention steht damit in der deutschen Normenhierarchie sogar etwas höher als einfaches Bundesrecht (BGB, StGB, SGB VIII usw.). Denn obwohl sie als einfaches Bundesgesetz gilt, muss sie zur Auslegung von GG-Artikeln herangezogen werden.

Hier kann eine tiefgehende juristische Rechtsexpertise des Deutschen Instituts für Menschenrechte nachgelesen werden.  

Eine*n Sonderberichterstatter*in, wie bei anderen Menschenrechtskonventionen, gibt es bei der UN-Kinderrechtskonvention nicht. Der UN-Kinderrechtsausschuss, bestehend aus 18 von der UN-Vollversammlung gewählten Fachpersonen, erhält stattdessen die oben erwähnten Staatenberichte zu Fortschritten und Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Kinderrechte. Außerdem erhält er von Nichtregierungsorganisationen geschriebene Schattenberichte (die – wer ahnt es – auch kritische Stimmen, teilweise von Kindern und Jugendlichen selbst, zu Wort kommen lassen). Der Ausschuss ist zwar befugt, nach Analyse der Berichte Stellungnahmen abzugeben, auf Mängel hinzuweisen und Empfehlungen auszusprechen sowie einen Staat wegen Kinderrechtsverletzungen beziehungsweise fehlendem Schutz vor Kinderrechtsverletzungen zu rügen. Er kann allerdings keine Sanktionen verhängen, sondern muss darauf hoffen, durch seine „öffentliche Schelte“ Verbesserungen zu erreichen. Der Ausschuss veröffentlicht zudem in unregelmäßigen Abständen Allgemeine Bemerkungen zur Konkretisierung und Interpretation der einzelnen Konventionsrechte.

Diese General Comments können in ihrer Gesamtheit hier auf Englisch und hier in einer deutschen Übersetzung nachgelesen werden.

Weltweit gibt es die folgenden vier Menschenrechtsgerichtshöfe:

  • der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (seit 1959 in Straßburg, Frankreich),
  • der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (seit 1979 in San José, Costa Rica)
  • der Internationale Strafgerichtshof (seit 2002 in Den Haag, Niederlande) und
  • der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte der Völker (seit 2006 in Arusha, Tansania).

Seit 2014 gibt es ein Individualbeschwerderecht immerhin vor dem UN-Kinderrechtsausschuss. Kinder oder ihre Vertreter*innen können sich direkt an den Ausschuss wenden sofern sie den nationalen Rechtsweg ohne Erfolg durchlaufen haben. Sie können Kinderrechtsverletzungen eines Staates anklagen oder den fehlenden Schutz eines Staates einklagen. Der Ausschuss kann außerdem Fälle besonders schwerer Kinderrechtsverletzungen ohne einen direkt Klagenden untersuchen. Aber auch hier bleibt das oben erwähnte Dilemma: Der UN-Kinderrechtsausschuss kann Staaten bloß rügen, er hat keine weiteren Sanktionsmöglichkeiten. Und wie viele Kinder haben überhaupt die Ressourcen, die anwaltschaftliche Vertretung und das Durchhaltevermögen, den nationalen Rechtsweg bis zum Ende zu durchlaufen? Dennoch: Durch die völkerrechtliche Verpflichtung, die Beschwerde anzuerkennen und entsprechende Maßnahmen zur Verbesserung zu ergreifen, ist die Individualbeschwerde ein nicht zu ignorierendes Instrument, mit dem Kinder selbst die Weltöffentlichkeit auf konkrete Menschenrechtsverletzungen ihnen gegenüber aufmerksam machen können.

Auf Initiative der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth wurde 1988 die Kinderkommission des Deutschen Bundestages eingerichtet. Damit wurde zwar ein erster Schritt hin zur Interessenvertretung von Kindern auf Bundesebene unternommen. Die Kommission hat jedoch aufgrund ihrer parlamentarischen Einbindung (sie hat keine alleinige Entscheidungsbefugnis) und des Konsensprinzips (sie besteht aus Vertreter*innen aller im Bundestag vertretenen Parteien) kaum Einfluss auf Regierungsentscheidungen.

Seit 2015 untersucht und überwacht eine Monitoringstelle, die beim Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelt ist, die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Auch sie spricht nur Empfehlungen aus, wie die UN-Kinderrechte besser umgesetzt werden können. Sie berät die Politik in Bund, Ländern und Kommunen sowie die Justiz, Anwaltschaft und Zivilgesellschaft bei der Auslegung und kindgerechten Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Die Monitoringstelle hat jedoch keine Befugnis, Beschwerden nachzugehen oder in Einzelfällen rechtliche Beratung anzubieten.

Zusammenfassend halten wir fest: Die UN-Kinderrechtskonvention besitzt keine unmittelbare Durchsetzungskraft und könnte als „zahnloser Tiger“ bezeichnet werden. Umso wichtiger erscheint in diesem Licht die Lobbyarbeit von Gruppen, Initiativen, Kampagnen, sozialen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt von Kindern selber als „Motor“ zur Umsetzung der Kinderrechte. In Deutschland haben sich über 100 Organisationen zur National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention zusammengefunden. Sie achten darauf, dass die UN-Kinderrechte bei politischen Entscheidungen besser berücksichtigt werden, weisen gegebenenfalls auf Missstände hin und sind für die Schattenberichte an den UN-Kinderrechtsausschuss zuständig.

Und werden UN-Kinderrechte tatsächlich umgesetzt?

Die UN-Kinderrechtskonvention trägt nur bedingt zur Umsetzung der darin enthaltenen Rechte bei. Die meisten Regierungen haben die UN-Kinderrechtskonvention nicht aus einem besonderen Gerechtigkeitssinn für Kinder heraus unterzeichnet. Oft überwog die „Imagepolitur“ oder die Aussicht auf internationale Gelder. Die sich aus der UN-Kinderrechtskonvention ergebenden Verpflichtungen wurden bisher nicht allzu ernst genommen. Häufig sind UN-Kinderrechte für sozial benachteiligte und marginalisierte Kinder völlig außer Reichweite. So ist es nicht verwunderlich, dass die UN-Kinderrechte von Kindern im Globalen Süden gelegentlich heftig kritisiert werden:

„Die UN-Kinderrechtskonvention ist nichts als ein Haufen toter Buchstaben, da kaum jemand sie kennt und sie den wenigen, die sie kennen, nichts bedeutet.“

Viviana, 14 Jahre, arbeitendes Kind aus Kolumbien

Und vor „unserer“ Haustüre in Deutschland? Die Bundesregierung war bei der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention der Überzeugung, dass die damalige nationale Gesetzeslage den Ansprüchen und Standards der UN-Kinderrechtskonvention vollends genügten und dass die UN-Kinderrechtskonvention vor allem ein Appell an den Globalen Süden sei (so ähnlich steht es in einer „Denkschrift“ zur Ratifikationsurkunde). Dennoch ratifizierte Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention nur mit Vorbehalten: so durfte beispielsweise das deutsche Ausländerrecht nicht durch die Konvention berührt werden obwohl es nicht den Maßgaben der Konvention entsprach. Dies benachteiligte vor allem geflüchtete Kinder. Obwohl der Vorbehalt 2010 zurückgenommen wurde, stellt der UN-Kinderrechtsausschuss immer wieder Verletzungen der Kinderrechte in Deutschland fest, etwa dass:

  • Bildungschancen höchst ungleich verteilt sind,
  • Kinderarmut zu wenig bekämpft wird,
  • geflüchtete Kinder weiterhin ungerecht behandelt werden,
  • die Kinderrechte zu wenig bekannt sind und kaum in Lehrplänen oder Ausbildungsrichtlinien stehen,
  • es keine umfassende Kinderpolitik und viel Kompetenzgerangel gibt,
  • es noch keine*n Bundeskinderrechtsbeauftragte*n gibt,
  • die Kinderrechte noch nicht in der Verfassung stehen.

So wurde Deutschland im Anschluss an die „Abschließenden Empfehlungen“ des UN-Kinderrechtsausschuss vom Deutschen Kinderhilfswerk als „kinderrechtliches Entwicklungsland“ bezeichnet.

BBeim zweiten und bisher letzten Weltkindergipfel im UN-Gebäude in New York trafen im Jahre 2002 die Vertretungen aller unterzeichnenden Staaten mit 400 Kindern und Jugendlichen aus allen Kontinenten zusammen, um die Lage der Kinderrechte zu überprüfen. Die Bundesregierung unterzeichnete damals das Abschlussdokument „A World Fit For Children“ und verpflichtete sich damit zur Entwicklung eines Nationalen Aktionsplanes (NAP).

Das hierfür im Anschluss entwickelte Dokument „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010“ sollte unter der Federführung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als Leitfaden für kinderpolitisches Handeln und eine verstärkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland gelten. Es enthielt jedoch viele Allgemeinplätze, weswegen die daraus hervorgegangenen Initiativen und Aktionsprogramme nur begrenzte Wirkung zeigten. Seit 2019 gibt es die Jugendstrategie der Bundesregierung zur Stärkung der Interessen von Jugendlichen zwischen 13 und 27 Jahren. Sie soll beispielsweise Kinder- und Jugendparlamente auf regionale und Bundesebene stärken, hatte aufgrund der Coronapandemie aber einen holprigen Start.

2010 veröffentlichte die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) im Rahmen dieser Initiativen den ersten „Kinder- und Jugendreport zur UN-Berichterstattung über die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. Ein Zeugnis für die Kinderrechte in Deutschland 2010“. Damit gab es erstmals einen Bericht aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen gemäß Artikel 44 UN-KRK neben den Staatenberichten und den Schattenberichten aus der Zivilgesellschaft. Der zweite Kinder- und Jugendreport („Zweiter Kinderrechtereport“) wurde von der National Coalition Deutschland in 2019 veröffentlicht.

Hier können der Erste Kinder- und Jugendreport sowie der Zweiter Kinder- und Jugendreport („Zweite Kinderrechtereport“) heruntergeladen werden.

Eine Verankerung im Grundgesetz könnte unter Umständen den UN-Kinderrechten zu mehr Durchsetzungskraft verhelfen. Dieser Schritt wird seit 1992 immer wieder diskutiert, begleitet von Kampagnen diverser Nichtregierungsorganisationen und unterstützt von Politiker*innen mehrerer Parteien. Am wahrscheinlichsten würde eine entsprechende Formulierung als eigener Absatz in Artikel 6 GG auftauchen, wo es um Erziehungsrechte und -pflichten geht. Bedenken wurden zwar laut, dass der ebenfalls im Grundgesetz festgehaltene „besondere Schutz der Familie“ (Artikel 6 Abs. 2 GG) gefährdet wäre. Laut dem Kinderreport des DKHW sprachen sich dennoch 94% der Kinder und Jugendlichen sowie 84% der Erwachsenen ausdrücklich dafür aus, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Zwar scheiterte die damalige Koalition aus CDU, CSU und SPD 2021 bei einem ersten Anlauf, Kinderrechte ins Grundgesetz zu implementieren. Doch die Regierungsparteien unter Führung der SPD haben sich im Koalitionsvertrag 2022 erneut auf das Vorhaben verständigt. Zurzeit liegt das Vorhaben auf Eis.

Letztendlich stellt die Gesamtheit der oben erwähnten Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Kinderrechte nur einen Tropfen auf den heißen Stein dar, bis sich eine gesamtgesellschaftliche „Kinderrechte-Kultur“ entwickelt. Zu einer solchen Kultur würden aber nicht nur die UN-Kinderrechte gehören. In einem gesonderten Text weise ich auf Stolpersteine und Herausforderungen eines rein juristischen Blicks auf Kinderrechte hin. Wie eingangs erwähnt, gibt es unterschiedliche Perspektiven auf und Zugänge zu den Kinderrechten, wovon ich im Folgenden einige historische und aktuelle Beispiele aufzeige.

Kinderrechte abseits der UN-Kinderrechtskonvention?

Erweitern wir unseren Blick auf Kinderrechte, stellen wir fest: Die Mitglieder der Vereinten Nationen haben Kinderrechte nicht erfunden. Vorangegangen waren den UN-Kinderrechten beispielsweise

  • die schwedische Reformpädagogin und (konservative) Frauenrechtlerin Ellen Key, die um 1900 „das Jahrhundert des Kindes“ ausrief und sich für bessere Aufwuchsbedingungen und die Gleichstellung unehelicher Kinder einsetzte,
  • der polnische Kinderarzt, Pädagoge und Autor Janusz Korczak, der in seinen „Kinderrepubliken“ ab 1911 partizipative Strukturen aufbaute und in einer Magna Charta Libertatis das Recht des Kindes „auf seinen Tod, auf den heutigen Tag und so zu sein, wie es ist“, einforderte,
  • der russische Verein Freie Erziehung der Kinder, der reformpädagogischen Bestrebungen nachging und in einer „Moskauer Deklaration der Rechte des Kindes“ von 1918 vor allem Freiheits- und Gleichheitsrechte der Kinder hervorhob,
  • die britische Kinderrechte-Aktivistin Eglantyne Jebb, die 1919 Save the Children ins Leben rief, um die traumatischen Folgen des I. Weltkriegs für Kinder zu mildern,
  • der britische Pädagoge und Lehrer Alexander Sutherland Neill, der 1921 die demokratische Schule Summerhill mit Schüler*innenregierung und freiwilligem Unterrichtsbesuch gründete,
  • Vertreter*innen der US-Kinderrechtsbewegung (Children’s Liberation Movement) wie Richard Farson oder John Holt, die in den 1970er und 1980er Jahren den paternalistischen Ansatz des Kinderschutzes kritisierten und die Emanzipation der Kinder voranzutreiben versuchten,
  • sowie Vertreter*innen der europäischen Antiautoritären Erziehung beziehungsweise der Antipädagogik wie Ekkehard von Braunmühl, Christiane Rochefort oder Hubertus von Schoenebeck, die ebenfalls seit den 1970er Jahren machtasymmetrische pädagogische Beziehungen grundsätzlich in Frage stellten.

Auch wenn diese Personen nicht immer explizit von „Kinderrechten“ sprachen, stellten sie Forderungen, die oftmals denen der UN-Kinderrechtskonvention um Längen voraus waren.

Die parallel zur UN-Kinderrechtskonvention entwickelte Afrikanische Charta über die Rechte und das Wohlergehen des Kindes von 1990 spricht unter anderem Praxen in verschiedenen afrikanischen Ländern an, wie z.B. Apartheid, Zwangsehe oder Mädchenbeschneidung. Interessanterweise beinhaltet sie sowohl Rechte als auch Pflichten. Innerhalb der Familie soll das Kind für den Zusammenhalt der Familie Sorge tragen und die Eltern und älteren Menschen respektieren. Gegenüber dem Staat hat das Kind die Pflicht, der nationalen Gemeinschaft zu dienen, indem es seine intellektuellen und physischen Fähigkeiten einbringt.

Die Europäische Konvention über die Ausübung der Rechte des Kindes von 1996 beinhaltet vor allem verfahrensrechtliche Maßnahmen, welche dem Kind die Ausübung seiner Rechte ermöglichen und erleichtern sollen. So soll das Kind in familienrechtlichen Gerichtsverfahren von gerichtlichen Behörden oder Rechtsvertretungen begleitet werden, um zu garantieren, dass das Recht des Kindes auf Information erfüllt und die Sicht des Kindes gehört wird. In Bezug auf Beteiligung hinkt sie jedoch der UN-Kinderrechtskonvention hinterher. Im Jahre 2006 veröffentlichte die EU-Kommission außerdem eine EU-Kinderrechtsstrategie, die eine Reihe von Aktivitäten auslöste, um langfristig ein Mainstreaming der Kinderrechte in der europäischen Union und ihrer Außenpolitik zu gewährleisten.

Gibt es „Kinderrechte von unten“?

Wir stellen also fest: Kinderrechte gibt es auch abseits der UN-Kinderrechtskonvention. Interessant wird es, wenn junge Menschen selber eine Vorstellung davon entwickeln, was sie gerecht finden und diese Form der Gerechtigkeit einfordern.

„Das Gegenteil von Rechten sind nicht Pflichten, sondern das Unrecht. Dagegen engagieren wir uns.“

Vier deutsche Jugendliche beim Weltkindergipfel in New York, 2002

Hierfür gibt es viele historische und aktuelle Beispiele, die den Blick auf Kinder als passive Empfänger*innen von Hilfsangeboten wohlmeinender Erwachsener konterkarieren. Einige davon sind:

Neben diesen Zusammenschlüssen junger Menschen gibt es auch unzählige Beispiele einzelner Kinder und Jugendlicher, die sich im Alltag aktiv für mehr Gerechtigkeit einsetzen – sicherlich fallen Ihnen beim Nachdenken einige ein! Das Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis, Forderungen aufzustellen, die zu einem besseren Leben für junge Menschen führen und hierzu aktiv beizutragen, können wir also als „Kinderrechte von unten“ bezeichnen. Ob ihnen dies gelingt, hängt zum Teil von den materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen ab, die jungen Menschen zur Verfügung stehen. Im besten Falle führen Kinderrechte von unten zu einer Aneignung gesellschaftlicher Räume, eine Mitgestaltung privater und sozialer Lebenswelten sowie zur Überwindung von Machtungleichgewichten. Erwachsene Menschen müssen sich fragen, was sie hierzu beitragen können, wie sie junge Menschen begleiten können und welche Verantwortung sie dabei innehaben.

Philip Meade
aktualisiert am 23.07.2023